Von der Schönheit und Schwierigkeit der Sätze
 
Im Oktober 2004 führten der Musik- und Hörspieler Mike Reisinger und der Schriftsteller Bernhard Setzwein ein Gespräch per e-Mail für den Maillink. Dies geschah aus Anlaß des Erscheinens von "Die grüne Jungfer", einem im bayerisch-böhmischen Grenzgebiet spielenden Roman von Bernhard Setzwein. Es ergab sich ein Werkstattgespräch über die Bedingungen des Entstehens von Musik und Literatur.
 


Mike:
Womit wollen wir einsteigen?
Bernhard:
Womit man immer einsteigt, womit immer alles anfängt: Mit einem ersten Satz.
Mike:
Gut. Der ist ja jetzt schon gefallen … um nicht zu sagen: geschafft.
Bernhard:
Ja, du siehst mich den Schweiß von der Stirn wischen. Die ersten Sätze sind immer die schwierigsten. Von ihnen hängt alles ab. Für mich jedenfalls. Klar gibt es vor dem ersten Satz auch andere „Eröffnungen“: Blicke natürlich, Gesten, Bilder. Geräusche, Düfte. Alles wichtig, natürlich. Auch bei einem Buch, selbstverständlich. Kriegen wir ja dauernd gesagt, von Buchhändlern, Verlagsvertretern, Verlegern: das muß so und so ausschauen, sich so und so anfühlen, riechen. Mir ist bewußt, daß auch bei der Begegnung zweier Menschen das Vor-Sprachliche - Ausschauen, die Art des Bewegens, all das - deinen ersten Eindruck bestimmen und all deine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber trotzdem: Irgendwann muß es darüber hinausgehen. Ich mein: Wir sind doch immerhin das sprechende Tier, oder? Beim Hund bleibt’s beim Beschnüffeln. Wir aber müssen was sagen. Nein, wir wollen ja auch. Wir wollen mit einem ersten Satz einen Kontakt herstellen zum Gegenüber. Der erste Satz wird also hörbar. Und mit ihm die Stimme. Ganz wichtig. Auch bei einem Roman, einer Erzählung, einem Gedicht: Was hat das für eine Stimme? Mir jedenfalls geht es so: Ich hör das immer gleich. Ja, jetzt sind wir, glaube ich, schon mittendrin in den Problemen des Schreibens, Erzählens, nenne es meinetwegen auch Literaturmachens. Obwohl … nein, ich mag es nicht „Probleme“ nennen. Sagen wir lieber „Geheimnis“. Das Geheimnis des ersten Satzes. Wie ist das bei der Musik, wie ist das mit dem ersten Ton?
Mike:
Thomas Bernhard hat in „Beton“ eindringlich beschrieben, in welch existenzielle Nöte der erste Satz den Schriftsteller bringen kann. Als ich dieses Buch vor zwei Jahren erstmals las, empfand ich eine ungeheure Erleichterung; mir wurde klar, dass ich als Musik-Spieler einen völlig anderen Zugang zum Anfang habe. Der Musiker, vor allem der improvisierende Interpret, trainiert im Grunde ständig den Neuanfang. Jede Sekunde muss eine Entscheidung fallen. Jede Sekunde ist ein Neuanfang; und doch baut jeder Ton auf eine Kette vorausgegangener Töne und Ton-Bögen auf. Improvisierte Musik ist also keineswegs beliebig, sondern eine im Augenblick komponierte Musik.
Bernhard:
Und vor allem, wenn ich Dich hier kurz unterbrechen darf: ihr Musiker, zumal bei einer Session, macht es gemeinsam! Einer macht den Anfangston, der andere reagiert darauf. Als Autor sitzt Du allein am Schreibtisch, sendest einen Satz aus, sagst ihn vielleicht sogar laut vor dich hin … und es passiert nichts, absolut nichts. Kein Echo, keine Antwort, nichts. Wenn du als Autor jetzt nicht auch noch den zweiten und vielleicht dann dritten, vierten Satz hinzufügst, bleibt es bei der Stille wie vorher. Das macht das Riesen-Problem aus. Das hat, glaube ich, auch Thomas Bernhard sehr genau gekannt. Ursprünglich wollte er ja Musiker werden. Vielleicht um sich das zu ersparen. Jedenfalls: Das ist ein kategorialer Unterschied zu gemeinsam hervorgebrachter Musik. Aber du wolltest es noch genauer beschreiben?
Mike:
Ja. Als Spieler mußt du ständig auf alle musikalischen Umstände achten und dich quasi synchron mit den akkustischen Ereignissen in einem Raum bewegen. Jeder Ton ein erster Ton. Trotzdem gibt es natürlich den allerersten, den Anfang eines Konzertabends zum Beispiel: Am 28. März 2004 spielte Fredy Granzer zusammen mit Georg Janker, Roland HH Bißwurm und mir im Regensburger Jazzklub ein frei improvisiertes Konzert. Fredy, der Initiator der Jazzklubreihe Musica Prima und Abendspielleiter jenes Konzerts, untersagte es uns, über das zu Spielende vorher zu sprechen; ausprobieren war also erst recht nicht drin. Als der Moment herankam, als das Publikum die Erwartung auf die Bühne schickte und wir dastanden, da wusste keiner von uns vieren, was nun kommen würde. Wir hatten noch nie zusammen gespielt. Es war ganz still und wurde noch stiller. In diesem Moment, in der Stille vor dem erstenTon, merkte ich, dass in diesem spannenden Moment die Eierschale aufsprang und ein erstes Etwas hervorkam, an das sich alle Aufmerksamkeit würde hängen können.... Es war ein Klavierakkord. Vor Staunen und Überraschung stieg kein anderer Musiker ein, und Fredy wiederholte den Akkord einige Male, bis allmählich, sehr behutsam, die anderen Instrumente sich dem frisch geborenen Klang näherten, mit ihm spielten und zwangsläufig in eine gemeinsame Richtung davontanzten.
Bernhard:
Musiker sind Interagierende, ganz klar. Du hast es gerade sehr genau beschrieben. Und das merkt man natürlich auch. Und darum beneide ich Euch auch. Um diese Offenheit. Um dieses „Nur her mit dem ersten Ton, ich weiß … nein, besser: fühl schon einen zweiten“. Ich mein, das ist ja nicht nur eine Haltung, die man beim Musikmachen hat, sondern eine Lebenseinstellung. Man begegnet ja allem und allen so. Auf der anderen Seite ist es doch sicher kein Zufall, daß man unter den Schreibern fast zwangsläufig furchtbare Egomanen und die großen Einsamen findet. Thomas Bernhard hatten wir ja gerade. Dylan Thomas geht mir jetzt schon die ganze Zeit im Kopf herum. Weil ich mich, ausgelöst durch unsere Wales-Reise, noch mal intensiv mit ihm beschäftigt habe, diesem keltischen Wortmusiker. Hast Du einmal Aufnahmen gehört, wie der gelesen hat, also vorgetragen?
Mike:
Leider kenne ich die Stimme von Dylan Thomas nicht. Ich habe zwar von ihm gelesen, weiss jedoch nicht, wie er persönlich klang. Wenn ich Dich recht verstehe, so spielst Du darauf an, dass es möglicherweise eine Gegend in der Kunstlandschaft gibt, wo sich Gedicht und Song in die Arme fallen...
Bernhard:
Ja, ganz genau: die keltischen Barden. Aber um das noch abzuschließen: Dieser Dylan Thomas hat nur um sich selbst gekreist, auf eine selbstzerstörerische Art. Der hat sich ja in einer Rasanz sondersgleichen mit 39 Jahren zu Tode gesoffen. Ich weiß, es gibt diese Beispiele in der Popmusik auch, drum haben sie ihn ja auch so geliebt, ich meine, die Popmusiker den Dylan Thomas. Dennoch: Ich bleibe dabei, der Kampf des Autors um den ersten Satz und gegen die Stille ist grundverschieden von dem Tun der Musiker. Ich meine, da wäre Kampf ja schon das völlig falsche Wort. Es ist das offene, wache, freudige Warten auf den ersten Ton. Ich habe noch nie einen Musiker von der Angst in Bezug auf den ersten Ton reden hören. Aber diese Riesen-Hürde des ersten Satzes haben viele Autoren thematisiert.. Na gut, ich mag’s jetzt auch nicht zu weit treiben mit der kategorialen Scheidung in Sprachler und Töner, wie das meine Frau immer nennt. Aber dennoch: Mit dem Satz als geordneter Sprache kommt doch etwas ins Spiel, was fundamental ist: Grammatik nämlich. George Steiner, dieser ungeheure Kopf, Kulturphilosoph und Universalgelehrter, ich weiß nicht, wie viel Sprachen der kann, der sagt ja: Der entscheidende Evolutionsschritt war nicht das Aufrichten zum Gang auf zwei Extremitäten, war nicht der Gebrauch von Werkzeugen, waren auch nicht erste sprachliche Urlaute, sondern die Erfindung des Futurs und des Konditionalsatzes. Was wäre wenn. Und: Morgen werde ich. Die Möglichkeit, solche Sätze sagen zu können, verändert alles. Ich muß sagen, in dieser Deutlichkeit ist mir das auch noch nicht so sehr lange klar. Die Lektüre von George Steiner hat da viel angestoßen. Und eben auch ein sehr intensives Nachdenken über den Satz. Das mit dem ersten Satz ist nur ein Unterproblem davon. Mir wird einfach immer klarer, welche Macht Sätze haben. Und insbesondere schöne Sätze. Ich behaupte, der Mensch giert nach schönen Sätzen. Vielleicht auch, weil sie im Idealfall etwas von Musik an sich haben. Und eins ist doch einmal klar: Musik und das Verfallensein des Menschen an die Musik, die du doch auf Schritt und Tritt erlebst, selbst in den blödesten und unerträglichsten Ausformungen noch, ist doch das größte Mysterium überhaupt. Warum gibt es Musik? Kannst Du mir das sagen?
Mike:
Einen Versuch ist es wert: Musik übernimmt offenbar eine Funktion im Leben des Menschen, die von der Sprache nicht geleistet werden kann. Musik ist eine viel unmittelbarere Stimulation als Sprache. Noch intensiver und direkter wirken meiner Meinung nach übrigens Gerüche auf die Gefühle. Aber dazu ein andersmal mehr. Die Musik packt also da zu, wo die Sprache aufhört Begriffe zu erfinden. Was der Musik jedoch fehlt, ist die Eindeutigkeit der Sprache. Deshalb greifen Komponisten stets zu Titeln und erklärenden Überschriften. "Die Moldau" beispielsweise, Friedrich Smetanas Tondichtung (man beachte den Begriff), wäre ohne Titel völlig unverständlich; es wäre zwar schöne Musik. Ob jemand darin jedoch den grossen böhmischen Fluss würde rauschen hören, ist fraglich. Mit dem Titel „Die Moldau“ jedoch wird das symphonische Werk zu einem Soundtrack für den inneren Film. Ebenso scheint es mir mit der Lyrik, vielleicht auch mit gesprochener Prosa zu sein. Ich denke an einen Abend im September 2004, an dem u. a. Josef Hrubý in der Deggendorfer Stadtbibliothek seine Gedichte las. Ich hörte diesen grossartigen Poeten zum ersten Mal selbst lesen und war ganz verzaubert von... ja, von seiner Musikalität. Er las sowohl die deutschen Übersetzungen seiner Gedichte, als auch ein paar tschechische Original-Versionen. Auch beim Tschechischen, das ich zum meinem grossen Bedauern (noch) nicht spreche, war etwas sehr tief Bekanntes für mich zu spüren. - Vielleicht kannst Du das präzisieren, denn Du hast bei dieser Veranstaltung ja selbst gelesen und den Hruby kennst Du auch sehr gut? Ist das nicht Musik, was der macht; oder anders gefragt, was ist Dichtung?
Bernhard:
In den allerglücklichsten Momenten ist sie fast Musik. Aber eben nur fast. Und das ist es auch, was Autoren so furchtbar fuchst, daß sie diesen Graben zwischen Sprache und Musik nicht überwinden können. Mir fällt gerade Heimito von Doderer ein, dieser Gigant der Prosakunst aus Wien. Der hat ja am Ende seines Lebens, nachdem er neben vielem anderen zwei fast tausenseitige Wien-Romane geschrieben hatte, ein Projekt in Angriff genommen, das er „Roman Nummer sieben“ nannte. Er sollte wie eine Symphonie gebaut sein und aus sieben Einzelromanen bestehen. Während der Arbeit am ersten Teil starb er. Angeblich hat Doderer immer, bevor er sehr früh am Morgen zu schreiben anfing, in der direkt neben seinem Schreibtisch liegenden Partitur der Siebten von Beethoven studiert. Von Doderer stammt auch der Satz, man werde ihm nicht nachweisen können, daß er in seinen Romanen irgendetwas gesagt habe. Er wollte nur tönen, nichts mehr sagen. Ein schöner Traum, ein eitler Wunsch. Es geht halt nun mal nicht. Jedes Wort hat neben dem Klang auch eine Bedeutung. Damit hadern die Dichter manchmal.
Mike:
… und Musiker versuchen oft zu erzählen, so seltsam das klingt. Richard Strauß nannte viele seiner symphonischen Werke Tondichtungen. Die Programmmusik des späten neunzehnten Jahrhunderts, die Konzept-LPs der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts; sie erzählen. Ich erwähne das jetzt nur, um von beiden Seiten eine Brücke zu beginnen; einen Weg zwischen Musik und Sprache.
Bernhard:
Mir fällt noch ein anderer tschechischer Lyriker ein, Ivan Diviš. In einem seiner Gedichte heißt es: „Diese meine lausigen buchstaben! Alle buchstaben sind lausig / nur die musik lebt“. Genau da hast du es wieder. Vielleicht sind alle Lyriker verhinderte Musiker. Bei Josef Hruby, den Du angeführt hast, ist es ja eklatant. Der hat früher ja sehr viel Geige gespielt. Sein Vater war Zirkusmusiker und Geigenbauer. Sein Taufpate auch ein böhmischer Dudelsackpfeifer, der um die ganze Welt herumgekommen ist. Der Josef ist also ein musikgeborener Lyriker, kann man sagen. Herrliche Geschichten kann der erzählen. Aber das muß er selber tun. Er schreibt ja gerade seiner Autobiographie. Auf die warten wir sehnsüchtig. Aber laß mich noch einmal auf etwas anderes zurückkommen. Das mit der Musik. Was die eigentlich ist. Du sagst, Musik fängt dort an, wo Sprache aufhört. Es klingt so, als möchtest Du sagen, Musik sei das Innerste, Ursprünglichste am Menschen. Vielleicht. Wir wissen nicht, was der Mensch zuerst gebildet hat mit seiner Mundhöhle: Töne oder Worte. Und dennoch: Mir geht das im Grunde noch nicht weit genug. Daß es Musik gibt, in der Welt, ist doch eines der größten Rätsel überhaupt. Ich kann es gewissermaßen nicht aus dem Menschen allein heraus erklären. Sie geht über den Menschen hinaus. Ich muß nochmal auf George Steiner zurückkommen, der in seinem Buch „Errata. Bilanz eines Lebens“ ein Kapitel über Musik hat, das zum Glänzendsten gehört, was ich zu diesem Thema gelesen hab. Steiner sagt, die Aufführung eines Streichquartetts sei verwickelter und unanalysierbarer als sonst irgendein Geschehen auf diesem Planeten. Und im Grunde kommt er zu genau dem gegenteiligen Schluß wie Du, wenn er sagt: „,Musik leben‘ […] heißt einen Bereich zu bewohnen, der uns in seinem tiefesten Wesen fremd ist.“ Und noch so ein herrlicher Satz von ihm: „Das Lied führt uns in die Heimat, die wir nie betreten haben.“ Wenn es um Musik geht, wird Steiner, der jüdischen Herkommens ist, zum Mystiker. Kannst Du damit etwas anfangen oder ist Dir das als Praktiker zu abgehoben?
Mike:
Jetzt meldet sich eine Stimme bei mir und warnt mich vor spiegelglatten Fahrbahnen. Aber ich kann meine Begeisterung über solche Äusserungen nicht zähmen. Natürlich kann ich mit diesen Aussagen sehr viel anfangen. Musik ist für mich die greifbarste Form der Magie. Vielleicht ist sie sogar die Urreligion. Keine Religion kommt ohne sie aus. Und ich möchte sogar soweit gehen zu sagen, es braucht keinen weiteren religiösen Inhalt ausser dem puren musikalischen Klang, um die Verwandlung zu erleben. Musik verzaubert Spieler und Hörer gleichzeitig. Allein der Begriff Spieler sagt sehr viel; wenn auch mit Worten. Für mich ist Musik Mystik und gleichzeitig ein Transportmittel, um an das grösste Geheimnis zu gelangen, das es auf dieser Welt für mich gibt, nämlich mich selbst … Musik kann zweierlei: den Menschen im Innersten berühren und Gemeinschaft stiften. Gerade das Erlebnis des kollektiven Hörens macht sie so unwiderstehlich. - Wobei ich mich frage, ob nicht vorgetragene Literatur auch schon Musik ist....
Bernhard:
Sagen wir: sein kann. Deshalb fragte ich ja vorhin, ob Du Aufnahmen von Dylen Thomas kennst; und wenn Du „ja“ gesagt hättest, wäre für mich klar gewesen, darüber brauchen wir jetzt nicht mehr weiter reden, wir wissen beide: Es gibt Lesungen, die sind eigentlich Konzerte.
Mike:
Die Mystik der Musik findet sich - und das ist nichts weiter als ein Verdacht von mir - auch in der Lyrik und sogar in bestimmter Prosa wieder.
Bernhard:
Eindeutig. Das ist es, was der Roman spätestens seit James Joyce versucht. Davor Tolstoi, Flaubert, Dostojewski: das war noch die große Erzählung, Epos, Sitten- und Familiengeschichte, Krieg und Frieden. Da geht es um Stoff. Was steht drin? Seit James Joyce geht es um den Klang. Wie hört es sich an? An diesem Projekt sind immer noch viele Autoren dran. Doderer hab ich erwähnt. Handke im Grunde auch. Oder: Péter Esterházy. Der sagt selber: Ihm geht es nur um schöne Sätze. Sein 900seitiges „Harmonia caelestis“ besteht nur aus numerierten Sätzen. Schöne numerierte Sätze. Und er sagt auch, der Esterházy, wenn ihm beim Schreiben ein Gedanke kommt, steht er sofort auf und geht im Zimmer herum, bis der Gedanke wieder verschwunden ist. Ich meine, das ist doch fast eine sufische Meditationstechnik. Der Esterházy, der ja ein herrlicher Selbstironiker ist, würde wahrscheinlich sagen, für den Tanz der Derwische ist er zu beleibt, drum geht er. Ich mein, in seinem Zimmer herum, da geht er. Und dabei tanzt er die Geschichte weg und zurück bleiben einzelne schöne Sätze. Aber jetzt laß ich’s gut sein, ich glaub, ich treib’s zu weit.
Mike:
Nein, nein, bleiben wir dabei: der moderne Autor als tanzender Derwisch. Wenn Du, ein Sprach-Mensch, wie er im Buche steht, solche wunderbaren Zitate zur Erklärung der Musik lieferst und selbst noch derart eindringlich und respektvoll von dieser Disziplin sprichst, darf ich, ein Klangschleuderer, ein paar Gedanken zur Mystik in der Literatur liefern?
Bernhard:
Nur zu. Ich bin gespannt.
Mike:
Was mir auffällt ist, dass sowohl Christentum, Judentum wie Islam sich wesentlich auf die Schrift stützen. Die Religionsgemeinschaft der Sikhs verehren ein Buch als höchste religiöse Autorität. Man braucht nur kurz die schriftliche Kultur des alten Ägypten oder Griechenlands, die Sanskrit-Schriften und die Babylonischen Schriftfunde zu erwähnen, um zweifelsfrei sagen zu können: ohne Schrift wäre unsere Kultur eine ganz andere? Die deutsche Sprache, die Schrift- oder Hoch-Sprache genannt wird, ist wesentlich von Luthers Bibelübersetzung beeinflusst. Biblische Begriffe prägen unseren Alltag noch heute; auch im Tohuwabohu des weltweiten Netzes. Hier kommen wir, wenn wir wollen an eine interessante Stelle, die Frage nämlich: verliert die Musik oder auch die Literatur durch die technische Reproduzierbarkeit ihre Mystik? Ist also, anders gefragt, ein Popsong im Radio weniger mystisch als der längst verklungene Gesang eines Druiden, der vor ein paar tausend Jahren auf den Britischen Inseln gelebt hat?
Bernhard:
Was kam mit der Schrift in die Welt? Das ist wahrscheinlich wirklich eine der zentralen Fragen. Vielleicht ja, neben manch anderem, die Trennung in Schriftsteller und Musiker. Man weiß ja ziemlich genau, daß das früher zusammenfiel. Wahrscheinlich mit dem Aufkommen Schrift hat es sich geschieden. Davor hat der Rhapsode seinen Text gesungen, ganz klar. Sänger und Dichter, das war eins. Aber auch Dichtung und … ja, ich müßte jetzt Religion sagen, es sträubt sich aber ein wenig, ich sage lieber Dichtung und Animismus, also die Vorstellung von der Beseeltheit der Natur, das fiel auch zusammen. Dichtung war Ausdruck des Animismus. Ich stelle mir vor, wenn das Publikum so einem Rhapsoden zuhörte, wenn der vor ihnen stand, das hatte sicher kultischen, zeremoniellen Charakter. Weihevoll natürlich auch. Mit der Verschriftung fällt das weg. Wahrscheinlich nicht schlagartig, aber nach und nach. In Alberto Manguels „Geschichte des Lesens“ erfährt man zum Beispiel, daß in der Antike noch generell laut gelesen wurde. So dieses stille Lesen, jeder für sich allein, wie wir das betreiben, war dem antiken Menschen unvorstellbar. Diese Lektüre in Einzelhaft und in silentium, das hat natürlich gravierende Folgerungen: Ganz grob und sehr zusammengerafft gesagt, es beginnt das Zeitalter der Textkritik und der Philologie. Du blätterst vor und zurück, nimmst andere Bücher dazu, also andere Meinungen - das alles ist ja beim kultisch-zeremoniellen Vortragsgesang nicht möglich. Man könnte auch sagen: der Samen des Zweifels wird gesät. Stimmt das denn wirklich, was da geschrieben steht, und was ich, auch noch ein wichtiger Punkt, wieder und wieder lesen kann. All das untergräbt natürlich das, was man die heilige Aura des Textes … oder besser und genauer: des rhapsodenhaften Textvortrages nennen könnte. Gleichzeitig stellen wir auch noch 2000 Jahre später die Riesen-Faszination fest, die gelungene Vortragsabende auf ihr Publikum ausüben. Ich möchte nicht wissen, wieviele von den Büchern, die dann nach so einer Lesung weggehen, tatsächlich gelesen werden.
Mike:
Du meinst also, die Leute hören lieber als sie lesen?
Bernhard:
Das ist offensichtlich. Das kann man ja auch am Erfolg der Hörbücher ablesen. Und ich glaube eben nicht, daß es nur am notorischen Zeitmangel des angeblich so modernen Menschen liegt, der sich, meines Verdachts nach, dann doch gelegentlich in den Rhapsodenkreis um ein offenes Feuer herum zurücksehnt. Könnte es nicht so sein? Eine Vermutung meinerseits.
Mike:
Ja, doch! Eine erfrischende Vorstellung: am Lagerfeuer sitzen, nahe an der Glut, - so ein Feuer ist immer der Mittelpunkt der Welten - die Nacht über sich, mitten unter Hörenden, dem Vorsänger lauschend... Das wär doch mal ein Projekt: Bernhard Setzwein trägt am Lagerfeuer vor; wärst Du dabei?
Bernhard:
Ja, schon. Andererseits … es gibt nie ein einerseits ohne ein andererseits, und ich habe jetzt zu heftig und zu lange für das einerseits geredet … also: Andererseits sollten wir schon auch aufpassen, daß wir nicht in einen komplett larifari-haften Literaturzirkus abdriften. Das ist ja festzustellen: Nur noch das Event zählt. Lesungen in vergammelten U-Bahn-Schächten. Lesungen beim Nobelitaliener mit Weinverkostung. Dieser Schlürfcharakter von allem und jedem. Dagegen würde ich mich auch wenden. Die Leute sollen schon auch das Buch lesen. Sich durchbeißen. Kauen eben, statt schlürfen. Manchmal bin ich für harte Kost. Ein schweres Buch ganz lesen, nicht aufgeben. In Stille, alleine, meinetwegen auch zu zweit, aber eben ganz. Von vorne bis hinten. Von mir aus auch am Lagerfeuer.
Mike:
Ja, aber trotzdem: Laß mich da noch kurz weitermachen. Mir scheint, dass wir uns im Grunde noch gar nicht so weit vom Lagerfeuer entfernt haben. Die Rituale, die Du angesprochen hast, sie sind nicht mehr die von vor dreitausend Jahren. Aber es sind doch noch sehr ritualhafte Handlungen da. Das Absingen von Beatles-Songs kommt mir inzwischen auch schon wie eine religiöse Ersatzhandlung vor; auch, ohne irgend etwas bewerten zu wollen, die Klubkultur, also die Teckno-Musik und ihre Aufführungspraxis hat etwas sehr Strenges, eine Art Regelwerk zur Basis. Die Klub-Besucher wissen, wie man sich in welcher Phase der Party zu verhalten hat. Wer sich daran hält, ist dabei. Wer nicht, outet sich als Andersgläubiger. Ein Musikerkollege von mir, er nennt sich Mainstream-Killer, ist vor ein paar Jahren mit dem Rekorder und zwei Mikros aufs Oktoberfest gegangen und hat im Hofbräuhaus-Zelt die Atmosphäre aufgenommen. Da spielte die Kapelle den Rolling Stones Song „Satisfaction“. Wieviele Leute passen in ein solches Zelt?
Bernhard:
Ich würd sagen 7000 …
Mike:
Ja, vielleicht. Egal. Es war voll und ich behaupte, alle sangen mit; manche vielleicht nur mit den Lippen oder nur in Gedanken; aber ich glaube nicht, dass einer nicht mitgesungen hat. Sagen wir mindestens 5 000 Leute sangen gemeinsam und sehr sehr laut: „I can't get no satisfaction.“ - Das war aber kein Protest. Das war die Erinnerung an Protest. Rockmusik ist Bestandteil eines Rausch-Rituals geworden. - Das witzige dabei ist, es ist die beste „Satisfaction“-Version, die ich je gehört habe; alle Stones-Aufnahmen inbegriffen.
Bernhard:
Warum das denn?
Mike:
Aus mehrerlei Gründen: Die Bierzelt-Besucher sangen so laut, dass die Kapelle fast nicht mehr zu hören war; die Musiker wurden durch den enormen Schalldruck der 5000 zu blossen Takt- und Harmonie-Gebern degradiert. - Bei den Originalkonzerten mit den "Stones" war es eher umgekehrt: eine gewaltige Rockmaschinerie, zu der ein paar tausend Stimmen als Klangfüllung dienten. Und dann war da noch was: man visualisiere sich das Bild; 5000 Menschen, den Masskrug in den Händen, angetrunken und aufgekratzt, tanzend und springend, singen alle zusammen, sie könnten keine Befriedigung verspüren. Das ist doch was. Das Geheimnis, das ewig Unbekannte, es liegt oft auch im Banalen verborgen. Aber ich möchte hier nichts überdrehen und nicht aus jedem Maßkrug den Wein der Erkenntnis heraussaugen. Geschlürft wird, wie Du sehr treffend sagst, viel genug. Also noch eine letzte Frage: Was ist das hier? Was machen wir beide da? Ist es die Suche nach dem letzten Satz? Oder der Anfang einer endlosen Symphonie...?
Bernhard:
Machen wir dieses Faß lieber nicht auch noch auf. Ich hab zwar gesagt: Das Schwierigste sei der erste Satz. Noch viel schwieriger ist natürlich der letzte Satz. Und die dazwischen erst: Mein Gott! Den letzten Satz gibt es eigentlich gar nicht. Den kann es gar nicht geben. Mallarmé hat gesagt: Das Kunstwerk hat keinen Anfang und kein Ende. Es täuscht sie nur vor. Mit diesem Satz würde ich jetzt gerne ein Ende des Gesprächs vortäuschen.
 
Nachbemerkung:
Was mit der "Grünen Jungfer" begann, ist seit Mai 2012 abgeschlossen: eine Romantrilogie um die Mitte Europas.
Im Jahr 2005 erschien "Ein seltsames Land" und im Frühling 2012 der abschliessende Band: "Der neue Ton".
Hierzu mehr auf den Seiten von www.bernhardsetzwein.de
 
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